Der Briefeschreiber

Ganze zwei Stunden war er nun schon um seinen Schreibtisch herumgeschlichen. Jetzt hatte er sich endlich hingesetzt. Eigentlich hatte er sich sich schon vor vier Wochen vorgenommen, diese Aufgabe zu erfüllen, aber er hatte dankbar jede Art von Ablenkung entgegengenommen. Nun saß er da, vor einem weißen Blatt P apier mit seinem altmodischen F üllfederhalter in der Hand. Die Unberührtheit, die J ungfräulichkeit des Papiers schrie ihn geradezu an und ließ ihn zögern. Er hatte sich vorgenommen, einen B rief zu schreiben, einen echten, analogen, m anuellen,altmodischen Brief. Keine E-Mail am C omputer, sondern ein echtes D okument, erstellt mit seiner eigenen H andschrift. Er starrte auf die die fast weiße Seite vor ihm. Er hatte im Schrank ein paar alte Blätter Schreibpapier gefunden. Schweres, dickes Papier, mit einem O rnament von Y lang-Ylangblüten als W asserzeichen. Sein Blick verfing sich in den zarten Blüten und er begann in Erinnerungen zu versinken. Seit dreißig Jahren hatte er kein Lebenszeichen mehr von ihr gehabt, doch vergessen hatte er sie nie. Noch weniger konnte er vergessen, geschweige denn sich verzeihen, was er ihr angetan hatte. Immer wieder quälte ihn die Erinnerung. Er hätte so gerne die Zeit zurückgedreht, um ungeschehen zu machen, was nie hatte passieren dürfen. Zumindest hatte er sich die Möglichkeit gewünscht, sich zu entschuldigen, doch es gab nie wieder einen Kontakt zueinander. Bis nun seine Tochter ihn mit der Nachricht überraschte, dass sie ein Bild von ihr und ihrer Tochter auf Facebook gefunden hatte. Als sie ihm das Foto zeigte, erzählte er seiner Tochter die Geschichte. Sie musste weinen und auch ihm waren ein, zwei Tränen gekommen. Tage später überfiel seine Tochter ihn regelrecht mit einer Adresse. Auf die Frage, wo sie die herhabe, hatte sie nur gesagt: „Ich gebe meine Quellen niemals preis“ und war wieder verschwunden. Plötzlich gab es die Chance, eine über dreißig Jahre offene Wunde zu schließen. Seine Finger zitterten. Er wusste nicht einmal, wie er die A nrede formulieren sollte. Ein „Sehr geehrte“ war ihm zu förmlich, ein „Liebe“ schien ihm irgendwie unpassend. Dies sollte ja kein L iebesbrief, sondern eine Entschuldigung werden. Er setzte vorsichtig die Feder auf das Papier. Er hatte Angst, die Reinheit des Papiers mit einem T intenklecks zu verschandeln. Die Feder kratzte etwas, zu lange war sie bereits nicht mehr verwendet worden. Er konnte fast spüren, wie der Zellstoff sich voller Tinte saugte, als würde seine Erinnerung direkt hinein fließen. Ganz langsam und mit viel Druck führte er die Feder, als wollte er jeden Buchstaben in das Papier g ravieren. Er hatte einmal gesehen, wie bei einer X ylografie Buchstaben in Holzplatten geritzt wurden, um sie anschließend zu drucken. Es kam ihm so vor, als würde er ähnlich viel Druck benötigen, damit seine S chrift nicht zu k rakelig aussah. Z eile um Zeile schrieb er sich die Last von seiner Seele. Er ließ sich viel Zeit und vollendete jeden Buchstaben mit größter Sorgfalt. Jeden I -Punkt setzte er mit äußerster Präzision. Er ließ links und rechts ausreichend R and, damit seine Schrift nicht zu sehr die bezaubernden Blütenornamente verdeckte. Als er mit seinem Namen unterschrieben hatte, war er völlig erschöpft. Sorgsam faltete er den Brief, steckte ihn in einen U mschlag und v ersiegelte ihn mit dunkelrotem Siegelwachs und dem Siegelring der Familie. Er betrachtete sein Werk. Er fühlte sich müde aber erleichtert. Gleich morgen würde er den Brief zur Post bringen. „Spätestens“, so sagt er sich, „übermorgen“. Er legte den Brief auf das Sideboard im Flur, auf dem jede Menge ungeöffneter Briefe, Prospekte und Zeitungen lagen. „Spätestens Freitag“ sagte er sich und ging zu Bett.

Inspiriert durch:

https://365tageasatzaday.wordpress.com/2020/08/02/alphabet-etuedensommerpausenintermezzo-iii-2020/

Eine Geschichte mit einem themenbezogenen Alphabet.

Mein ABC:

A nrede

B rief

C omputer

D okument

E Mail

F üllfederhalter

G ravieren

H andschrift

I -Punkt

J ungfräulichkeit

K rakelig

L iebesbrief

M anuell

N achricht

O rnament

P apier

Q elle

R and

S chrift

T intenklecks

U mschlag

V ersiegeln

W asserzeichen

X ylografie

Y lang-Ylang

Z eile

14 Gedanken zu “Der Briefeschreiber

  1. Mir hat die Auflistung in der alphabetischen Reihenfolge am Ende gefallen – eine Geschichte draus zu basteln, die Idee fand ich sehr gut, noch schöner hätte ich es gefunden, wenn ein paar Absätze drin gewesen wären. Aber man kann ja nicht alles haben 😉

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  2. Ich habe schon seit Ewigkeiten nicht mehr längere Texte mit der Hand geschrieben, daher musste ich bisschen grinsen, als ich mir das Setting vorgestellt habe. Dagegen kann ich mir die Erleichterung sehr gut vorstellen, den Brief fertiggestellt zu haben – und ihn dann liegen zu lassen. Ich hätte deinem Protagonisten empfohlen, den Brief vorzuschreiben (auf dem Computer), ihn ein, zwei, drei Tage ruhen zu lassen, dann zu überarbeiten und ihn dann erst in Reinform zu bringen und abzuschicken. Ich bin relativ überzeugt, dass ihm das Aus-der-Hand-Geben dann leichter gefallen wäre 😉
    Nun denn. Vielleicht schafft er es ja noch. Vielleicht ist seine Tochter hartnäckig (und klug), und fragt nicht nur, ob er den Brief geschrieben, sondern auch, ob er ihn abgeschickt hat (sie sollte ihren Vater kennen).
    Danke dir, dass du mitgeschrieben hast: so ein schönes Thema! 😀
    Liebe Grüße in deinen Sonntag
    Christiane 🙂

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    1. Vorschreiben klingt schon wieder so strukturiert, so organisiert. Geht es wirklich darum, dass er den Brief verschickt oder geht es nicht auch darum, dass er es endlich schafft, seine Entschuldigung zu formulieren. Vielleicht reicht das ja schon, dass seine Entschuldigung nun in der Welt ist, selbst wenn sie nicht mehr verschickt wird.
      Ich muss gestehen, dass ich das mit der Handschreiben nie aufgegeben habe, trotz meiner unleserlichen Handschrift. Gerade beim Entwerfen von Geschichten und Gedichten schreibe ich oft mit der Hand. Inzwischen schreibe ich sogar auf meinem Tablet wieder mit der Hand. Es ist einfach ein anderer Zugang als mit der Tastatur.
      Ich wünsche einen sonnigen Sonntag
      Christian

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      1. Unleserliche Handschrift ? Kenn‘ ich – versuch’s mit Blockschrift (?) – nach einer Weile wird man richtig schnell und auf jeden Fall so flott, als würde man bedächtig mit Füllfeder formulieren; wobei im geschilderten Fall die Handschrift natürlich entschieden besser ist um auszudrücken, was man sagen will, schon klar…

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      2. Das. Ist der Schrift ist eher eine Frage der Konzentration. Ich kann auch gut leserlich schreiben, ich muss nur ausreichend Aufmerksamkeit darauf verwenden. Aber manchmal sind die Gedanken eben schneller als die Hand. Beim Tastaturschreiben sind die Gedanken immer schneller als die Finger, was zu merkwürdigen Autokorrekturen und Wortauslassungen führt. Aber ich mag es mit einem schönen Füllfederhalter auf schönem Papier zu schreiben. Das ist dann meist sogar leserlich. 😊

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      3. Ich verstehe deinen Zugang glaube ich, zum Handschreiben. Die Autokorrekturprogramme erfinden Sprache neu – bis wir mit Allem einverstanden oder zu müde für die Korrektur der Korrektur sein werden – eine unangenehme Spezies, hinterhältig und verführerisch. Eben fällt mir ‚Eine blaßblaue Frauen(Hand)schrift‘ ein, wenn ich an konzentriertes Schreiben mit der Hand denke … 😉

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  3. Hat mich begeistert, Deine Geschichte. Auch wenn der Brief doch nicht weggeschickt ist, so hat es ihn sicherlich befreit.
    Ich schreibe auch gerne mit der Hand, Papier und Stift/Kuli habe ich immer bei mir, um schnell mal Gedanken aufzuschreiben. Und Glüchwunschkarten etc. muß auch ICH immer schreiben, wegen meiner Schrift.

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  4. Pingback: Schreibeinladung für die Textwochen 37.38.20 | Wortspende von Ludwig Zeidler | Irgendwas ist immer

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