abc-Etüde, SUP

Bild: Christiane

Die abc-Etüden sind eine Schreibeinladung von auf irgendwas ist immer.

Die Wortspende für März bzw. die Textwochen 10, 11, 12 und 13 des Jahres 2023 stammt freundlicherweise von Werner Kastens und seinem Blog Mit Worten Gedanken horten. Sie lautet:

Dichterlesung
genügsam
verkuppeln.


SUP

Er schaute auf die Uhr. Es waren noch zwanzig Minuten. Zwanzig Minuten bis zum Beginn und doch war der kleine Saal bereits fast bis auf den letzte Platz gefüllt. Er hatte die nette ältere Dame vom Buchladen gebeten, nachzusehen. 50 Gäste passte in den Lesesaal dieser kleinen und schon sehr alten Buchhandlung. 50 Gäste die noch 20 Minuten warten würden. Laut der Ankündigung auf der Homepage des Buchladens erwartete sie eine 60 minütige Dichterlesung mit neuen Werken des Autors.

Die Lesung war bereits vor 6 Monaten geplant worden. 6 Monate lang hatte er Zeit gehabt, sich auf diesen Abend vorzubereiten. Für eine 60 minütige Lesung würde er 10 bis 12 Texte von 1 bis 2 Seiten Länge brauchen, den Zwischenapplaus von 50 Gästen mit einkalkuliert. Bei einer Normseite von 25 Zeilen mit durchschnittlich 3 bis 5 Worten pro Gedichtzeile, würde das Publikum 1.500 Worte von ihm erwarten, grob geschätzt. Er wusste mit weniger würde er nicht durchkommen, denn so ein Dichterlesungspublikum war alles andere als genügsam.

Doch all die Zahlen und Statistiken helfen ihm nicht weiter. Ihm fehlten die Worte. Alle Versuche seine Gedanken, die Wortfetzen, die Ideen, die Impulse, die Anstöße, die Einfälle, die Flausen, die Phantasien oder die Textschnipsel miteinander zu verkuppeln, waren gescheitert. Er war gescheitert. Woran? Er wusste es nicht. Tag um Tag hat er versucht zu schreiben, zu testen, zu formulieren, zu fabulieren, zu reimen, zu dichten. Es wollte ihm kein Gedicht gelingen.

Noch 10 Minuten bis zur Dichterlesung ohne Dichter und ohne Gedichte. Er war schon öfter dicht an der Katastrophe einer verpassten Abgabedeadline vorbeigeschrammt. Aber hier ging es nicht um einen Text, den er einreichen sollte, sondern um 50 Menschen, die dort auf ihn warteten.

Für einen Moment überlegte er, eine Unpässlichkeit vorzutäuschen, doch dann ging er hinaus. Stand-up-poetry war seine letzte Hoffnung.

abc-Etüde, Ernsthaft

Die abc-Etüden sind eine Schreibeinladung von auf irgendwas ist immer.

Die Wortspende für die Textwochen 04/05 des Jahres 2023 stammt wie bereits erwähnt von mir (Christiane) und meinem Blog Irgendwas ist immer. Sie lautet:

Drache
edel
häkeln.


Ernsthaft

„Im Ernst“, fragt ihn der große Typ und starrte ungläubig auf das Foto.

„Ja, im Ernst.“

„Hören sie, das kriege ich tausend Mal besser hin. Schauen sie sich mal meine Fotos und Vorlagen an, da finden sie sicher etwas passenderes.“

„Nein“, wehrte er ab. „Ich will es genau so.“

„Hey, ich habe einen Ruf zu verlieren. Das hier ist wirklich eine amateurhafte Arbeit und weit unterhalb meines Niveaus.“

„Ich habe mich erkundigt und weiß, dass sie ganz andere Dinge können und ich finde es sehr aufrichtig, dass sie mich darauf hinweisen. Aber ich will es genau so und weiß, dass sie das können.“

„Na das können ist nicht das Problem.“ Seine Skepsis schien etwas kleiner zu werden.

„Ich zweifel nicht an ihren Fähigkeiten, deswegen bin ich hier. Es mag einfach aussehen, aber ich will auch sicherstellen, dass es genau so wird, wie ich es möchte.“

Der große Kerl nickte nachdenklich. „Dann machen sie sich mal frei und nehmen sie Platz.“

Er atmete auf, zog sein Hemd aus und setzte sich angespannt hin.

Vor zwei Tagen war der Brief gekommen, aus England. An dem Briefpapier und der Schrift hatte er sofort die Versenderin erkannt. Ein Brief außer der Reihe, nicht zu den Feiertagen oder zu den Geburtstagen konnte nichts gutes bedeuten. Er hatte den Umschlag aufgerissen und den Brief und ein Foto herausgenommen, Das edle Büttenpapier verströmte einen leichten Duft von Bergamotte. Er schloss die Augen und konnte sie sofort vor sich sehen, wie sie häkelnd in ihrem großen Ohrensessel saß. Er brauchte den Brief nicht mehr lesen. Er wusste, was geschehen war.

Tränen liefen ihm über das Gesicht.

Der große Kerl wischte noch einmal über seinen Oberarm.

„Zufrieden?“

„Oh ja sehr“, sagte er schluchzend.

„Verraten sie mir, warum es dieser Drache sein musste.“

„Eine Familientradition und eine Erinnerung.“

abc-Etüde, Stürmisch

Die abc-Etüden sind eine Schreibeinladung von auf irgendwas ist immer.

Die Wortspende für die Textwochen 04/05 des Jahres 2023 stammt wie bereits erwähnt von mir (Christiane) und meinem Blog Irgendwas ist immer. Sie lautet:

Drache
edel
häkeln.


Stürmisch

Als am Morgen der Fensterladen klapperte wusste er, dass der sein Tag würde, um sich dem Drachen zu stellen. Noch vor dem Frühstück, sprang er aus dem Bett, schlüpfte in seine schützende Rüstung, zog die kniehohen Stiefel an, setze die von seiner Großmutter gehäkelte Mütze auf und schlich sich aus der Behausung. Er wurde sofort von einem heftigen Stoß eines alten Bekannten begrüßt und freute sich über diese Geste des Wiedersehens. Er verstaute alles was er brauchte in seiner Satteltasche, die er auf dem nicht mehr ganz so edlen sondern eher klapprigen Ross festzurrte bevor er aufbrach.

Nachdem dunklen Wald kamen die Hügel, die in der Morgendämmerung noch höher aussahen, als sie sonst schon wirkten. Er stieg einen der Hügel hinauf, sog die Luft tief in seine Lungen. Die Bedingungen schienen perfekt zu sein. Er schloss sein Ross an und wanderte zwischen den Hügeln hindurch, um auf die weite Ebene zu gelangen. Dort angekommen, flog ihm der Sand ins Gesicht, der hier wie Nebelschwaden über den Boden schlich.

Er holte ihn vorsichtig heraus. Kontrollierte noch einmal jede Verbindungsstelle und jeden Knoten. Alles war bereit. Er war bereit. Sorgfältig legte er ihn zu Boden und entfernte sich ein Stück in Windrichtung. Jetzt würde es kritisch werden. Es galt, sich der Herausforderung zu stellen. Das hatte er seit über 30 Jahren nicht mehr gemacht.

Er spürte ein Kribbeln in seinen Fingern und in seiner Brust. Als er eine kräftige Boe spürte, zog er an dem Seil und erweckte das bis dahin schlummernde Wesen, welches sich sofort erhob. In windeseile entfaltete es seine Kraft und stieg in den Himmel hinauf.

Das Ungetüm tanzte mit dem Wind und zerrte leidenschaftlich an dem Seil, welches er jedoch fest in seiner Hand hielt.