Die Wortspende für die Textwochen 06/07 des Jahres 2022 stammt von Kain Schreiber mit seinem Blog Gedankenflut. Sie lautet:
Zwerg quer fühlen.
Ansichtssache
„Also keine Extras?“ Der Lebensberater sah das junge Paar in einer Mischung aus Ernsthaftigkeit und Besorgnis an.
„Ja, ohne Extras“, sagt sie mit einem fröhlichen und bestimmten Ton.
„Ist das ihr Ernst?“
„Ja“, sagt der zukünftige Vater. Er war etwas irritiert, dass aus dem Vorbereitungsgespräch für die anstehende Schwangerschaft ein Verkaufsgespräch geworden war. Er fühlte, wie eine wachsende Unsicherheit und Skepsis in ihm aufkeimte.
„Also ein Zwerg“, sagt der Lebensberater leise vor sich hin.
„Wie haben sie meinen Sohn gerade genannt?“ fragte er erschrocken.
„Oh, entschuldigen sie. Ich wollte ihnen nicht zu nahe treten.“
„Haben sie gerade Zwerg gesagt?“
Der Lebensberater wurde etwas rot und fummelte nervös an seinem Kragen. „Tut mir leid.“
„Was meinen sie damit? Warum sollte unser Sohn ein Zwerg werden?“
Der Lebensberater sah das junge Paar nacheinander eindringlich und direkt an. Er war mit ihnen kreuz und quer durch den Angebotskatalog an genetischen Interventionen gegangen, doch die beiden hatten alle menschlichen Add-ons abgelehnt.
„Was meinen sie damit?“, fragte der Vater nachdrücklich.
„Also mit Zwerg meinte ich nicht, dass er körperlich ein Zwerg werden wird.“
„Was meinten sie denn dann“, fragte sie etwas erstaunt und hilflos.
Der Lebensberater schüttelte leicht den Kopf. „Was glauben sie denn, welche Chancen ihr Kind haben wird, ohne die biotechnischen Unterstützungen.“
„Er wird ein glückliches natürliches Leben führen“, sagt sie mit einer langsam weichenden Bestimmtheit.
„Ach, wird er das?“
„Warum sollte er nicht?“
„Weil er, aufgrund ihrer Entscheidung weniger Intelligent sein könnte. Er wird vermutlich schlechter hören und schlechter riechen und schmecken. Er wird ziemlich sicher langsamer und schwächer sein, als die meisten anderen Kinder. Er wird wahrscheinlich auch anfälliger für Krankheiten werden. Letztlich wird er ein Verlierer im Wettkampf des Lebens sein. All das könnte unsere schonenden Eingriffen verhindern. “
„Aber… das ist doch wider die Natur“, sagte sie erschrocken.
„Ansichtssache!“
Inspiriert vom Kapitel „Die technologische Herausforderung“ in Yuval Noah Hararis „21 Lektionen für das 21. Jahrhundert“.
Alle hier vorgestellten Romane und Kurzgeschichten haben direkt oder manchmal auch auf verschlungenen Pfaden miteinander zu tun. Träume? Phantasien? Wirklichkeit? Finden Sie es selbst heraus und folgen Sie den Abenteuern und Irrungen und Wirrungen meiner Heldinnen und Helden.