abc-Etüden – Sommeretüden – Aufgestaut

Das Etüdensommerpausenintermezzo II ist ein Schreibimpuls von Christiane auf Irgendwas ist immer.

Die Regeln:

1. 7 von 12 Wörter verwenden

2. Die Geschichte spielt, zumindest zu einem Teil, an einem echten Gewässer. 

3. Die Textlänge ist dieses Mal nicht begrenzt. 

Die Worte: 

Dachbegrünung – Eigentor – Fliegenklatsche – Glühwürmchen – Konzert – Lebensgeister – Regen – Similaungletscher – Sommerloch – Wasserläufer – Wetterleuchten – Willkür


Aufgestaut

„Das ist ja wie auf einem Meer“, sagte Oma Dagmar und sah sich um. Dass der See nun so groß war, hatte sie nicht erwartet. Ihre Enkelin hatte sie überredet mit ihr eine Runde über den Stausee zu fahren. Der Elektromotor war so leise, dass außer einem leichten Plätschern des Wasser am Schiffsrumpf nichts zu hören war.

„Papa sagt, du bist hier in der Gegend aufgewachsen.“

„Recht hat er“, sagte Dagmar. „Ich bin eine geborene Vernagterin. Das ist heute ziemlich selten.“

„Du meinst, es hat einmal einen Ort Vernagt gegeben?“

„Das will ich wohl meinen. Ein kleiner beschaulicher Ort.“

„Was ist mit ihm passiert?“

„Wem, Kindchen?“

„Dem Ort.“

„Ich würde sagen, wir fahren gerade darüber hinweg.“

„Wie meinst du das, Oma?“

Dagmar seufzte ganz tief: „Ich denke genau hier war mein Geburtsort. Vielleicht fahren wir gerade genau über den Sportplatz, wo ich deinen Opa kennengelernt habe. Er hatte damals ein Eigentor geschossen und tat mir so leid, dass ich ihn trösten wollte. Naja, und plötzlich waren wir 53 Jahre verheiratet.“

„Ich dachte, du hast Opa auf einem Konzert getroffen?“

„Das mit dem Konzert war eine andere Geschichte.“

„Was denn für eine?“

„Na ich will mal so sagen: Nach dem Konzert haben wir die Lebensgeister deiner Mutter geweckt.“

Die Kleine sah sie irritiert an. Erst nach und nach entspannte sich der Gesichtsausdruck.

„Ihr habt auf dem Konzert …“

„Naja, das Konzert war ja quasi vorüber. Dafür hatten wir statt Scheinwerfer ein ganzes Heer aus Glühwürmchen, die den Waldrand besäumten. Das sah so romantisch aus, da ist es einfach passiert.“ Dagmar sah in den Himmel, der sich mehr und mehr zuzog. Sie wusste aus ihrer Jugend, wie schnell hier das Wetter umschlagen konnte. Hinter einem Gipfel war bereits ein erstes Wetterleuchten zu erkennen.

„Wir sollten schnell zurückfahren“, sagt sie sehr ernst.

Die Kleine nickte und wendete das Boot. Die Wellen waren bereits etwas höher und das Klatschen an die Bordwand nun deutlich lauter.

„Aber wie kann der Ort unter uns sein?“

„Ach in meiner Jugend gab es hier noch den Similaungletscher. Doch der Klimawandel, du hast ja sicher davon gehört?“

Die Kleine nickte.

„Es wurde jedes Jahr wärmer, der Gletscher jedes Jahr kleiner und die Wassermassen im Frühjahr wurden jedes Jahr größer. Da halfen weder Dachbegrünungen noch Elektroautos, kann ich dir sagen. Als ich 20 wurde war klar, dass der Vernagt-Stausee erweitert werden müsste, um der Wassermassen Herr zu werden, Zunächst dachten wir, das war eine Zeitungsmeldung um das Sommerloch zu füllen, doch sehr schnell zeigte sich, dass die Landesregierung es ernst meinte.

„Aber sie konnten doch nicht einfach den Ort absaufen lassen“, sagte die Kleine entsetzt.

„Ach Kleines, das war keine Willkür sondern eine Notwendigkeit. Den Weg sucht sich das Wasser schon selbst. Alle Versuche das Wasser anderweitig zu lenken, sind gescheitert. Das Wasser wollte diesen Ort als Opfer.“

Ein lautes Donnergrollen erfasste den See. Die beiden Frauen zuckten zusammen. Starker Regen setzte ein und ließ das rettende Ufer vor ihren Augen verschwimmen. So allein auf der Weite des Stausees kamen sie sich wie ein kleiner Wasserläufer vor, während das Gewitter inzwischen wie eine große Fliegenklatsche über ihnen kreiste und drohte, sie zu zerschmettern.

Dagmar zog heimlich die kleine Medaille, die ihr damaliger zukünftiger Mann trotz Eigentor errungen hatte, aus ihrer Handtasche und ließ sie sanft aus ihren Händen in den See gleiten. Es sollte ein Dankesgeschenk an die vielen schönen Jahre mit ihrem Mann sein. Nun jedoch sah sie es als kleines Opfer, damit sie noch sicher ans rettende Ufer kämen. Sie hielt sich mit beiden Händen an zwei Holzgriffen fest, während die Kleine den Bootsmotor bis an die Grenze brachte. Das Boot hüpfte unkontrolliert von Welle zu Welle.


Es gibt bereits einen Vernagt-Stausee in der Nähe des Similaungletschers.

Ausdruck der Woche (30), Hilfsbereitschaft

Jede Woche achte ich darauf, welche Ausdrücke mir so begegnen, um sie dann auf eine oder andere Art und Weise zu betrachten.

In dieser Woche war die scheinbar unbegrenzte Hilfsbereitschaft ein überall anzutreffendes Thema. So positive Nachrichten, wie zum Beispiel die Hilfsbereitschaft – auch und gerade außerhalb von Notständen – sollte aus meiner Sicht viel mehr, in der täglichen Berichterstattung zu finden sein.


Hilfsbereitschaft

H ilfreich sei der Mensch

E del und gut – um das

L eid anderer zu mildern

F ürwahr ein Segen – wenn er seinem

E igensinn entsagt und sich zum

N utzen anderer emporschwingt

H ilfsbereitschaft ist ein

E dles Gut – welches zu selten das

L ob erntet – welches ihr gebührt

F ür andere Menschen da zu sein ist

E in Menschrecht – sowie -pflicht

N icht nur in schweren Zeiten

H ilfsbedürftig – ja geradezu hilflos

E rscheint mir das Leben in allen

L ebenslagen – wenn es keine Hoffnung auf

F riedvolle Hilfe gibt – gut zu wissen – dass die

E insatzbereitschaft nicht nur bei einem

N otstand zu verspüren ist

abc-Etüden – Sommeretüden – Die Willkür der Stadt

Das Etüdensommerpausenintermezzo II ist ein Schreibimpuls von Christiane auf Irgendwas ist immer.

Die Regeln:

1. 7 von 12 Wörter verwenden

2. Die Geschichte spielt, zumindest zu einem Teil, an einem echten Gewässer. 

3. Die Textlänge ist dieses Mal nicht begrenzt. 

Die Worte: 

Dachbegrünung – Eigentor – Fliegenklatsche – Glühwürmchen – Konzert – Lebensgeister – Regen – Similaungletscher – Sommerloch – Wasserläufer – Wetterleuchten – Willkür


Die Willkür der Stadt

Sie blickte sich nervös um. Wo sonst, wenn nicht direkt hier? Sie stand mitten im alten West-Berlin am Savigny-Platz an einer Ampel an der Kantstraße. Sie zog die Eintrittskarte aus ihrer Handtasche, versah sie mit etwas Klebeband und klebte sie an den Ampelmast, direkt neben einer Werbung für Geigenunterricht, einen Aufruf zu einer Kundgebung einer Initiative zur Dachbegrünung, einem Hertha BSC Aufkleber und einer eher etwas irritierenden Botschaft, die lautete: Gates liebt dich.

Sie prüfte den Halt, aber die Eintrittskarte für ein Oboen-Konzert in der Passionskirche in Berlin Kreuzberg hing sicher und fest. Es durfte nur keinen Regen geben, dachte sie und schaute in den wolkenlosen Himmel.

Im Kopf ging sie noch einmal den Text durch, der auf der Rückseite der Karte stand. Seit Tagen hatte sie diesen Text wieder und wieder überarbeitet und neu verfasst. Vor einer Stunde war der Text dann endlich fertig gewesen. Höchste Zeit, denn das Konzert sollte ja in nur wenigen Stunden stattfinden und irgendjemand sollte bis dahin ja auch noch die Karte gefunden und an sich genommen haben.

Als die Ampel grün wurde, stieß sie eine Art Stoßgebet aus und überquerte die Straße, um sich auf den Heimweg zu machen. Ihr Körper kribbelte bis in die allerletzte Zelle. „Wenn sie einen Weg suchen ihre Lebensgeister zu wecken, dann verabreden sie sich einfach mal mit ihrem Schicksal“, sagte sie leise zu sich selbst und kicherte, um sich selbst zu beruhigen.

Noch bevor sie Zuhause angekommen war, hatte sie sich mal wieder als verrückt erklärt. Wie könnte es anders sein, wo sie doch dabei war, die Begleitung für einen Konzertabend der Willkür dieser Stadt zu überlassen. Ihre spontane Idee kam ihr nun plötzlich wie ein irres Wetterleuchten ihrer Phantasie vor. Nun war es zu spät. Sie würde nicht kneifen. Schlimmstenfalls käme jemand völlig langweiliges oder auch niemand. Dann hätte sie sich mit der Konzertkarte eben ein Eigentor geschossen. Aber allein die Lebenslust, die sie in diesem Moment spürte, war es bereits wert gewesen.

Er konnte die Regeln auf der Konzertkarte bereits auswendig aufsagen und doch las er sie immer und immer wieder. Er stand inzwischen vor der Passionskirche und beobachtete, wie die ersten Gäste hineinströmten. Neben wem von diesen Menschen würde er gleich sitzen? Die schöne, geschwungene Handschrift deutete darauf hin, dass es eine Frau sein könnte, aber eben auch nur sein könnte. In Berlin war ja ohnehin alles möglich. Als er die Karte an der Ampel entdeckt hatte, wollte er zunächst seinen Augen nicht trauen. Er hatte sich angesichts des bevorstehenden Sommerlochs bereits auf einen einsamen Abend auf seinem Balkon eingestellt, da fast all seine Freunde verreist waren. Doch nun stand er hier zu einem blind date.

Er wartete bis kurz vor Konzertbeginn. Er wollte nicht vor der Person auf dem Platz ankommen, um die Person direkt erkennen zu können. Nun näherte er sich der vierten Reihe. Dort war nur noch ein Platz frei. Er schob sich, während er sich fortwährend entschuldigte, an den bereits sitzenden Gästen vorbei und näherte sich einer Frau. In der Karte stand, dass die Person rechts neben ihm sitzen würde und nun konnte er sie sehen. Für einen Moment vergaß er zu atmen. Um ein Haar hätte er ihr die Hand hingehalten, um sie zu begrüßen und sich vorzustellen, doch ihre Regeln verboten es. Als letzten Satz hatte sie unter ihre Regeln geschrieben: „Bei einem Verstoß, egal welchem, werde ich unverzüglich gehen.“ So setzte er sich stumm, ohne sie zu begrüßen, ohne sie direkt anzusehen, ohne etwas zu sagen neben sie.

Sie konnte kaum glauben, wer dort auf sie zukam. Sie musste sich sehr überwinden, ihn nicht direkt anzustarren, aber sie konnte ja schlecht ihre eigenen Regeln brechen. Sie konnte ihn riechen und seinen Atem hören. Wie gerne, hätte sie nun auch seine Stimme gehört.

Das Konzert begann. Während des Konzerts ließ sie ihn keine Sekunde aus den Augen. Sie beobachtete, wie er sich kratzte, die Hände faltete, klatschte, seine Unterlippe massierte. Sie fand es unglaublich, was sie über einen Menschen erfahren konnte, ohne mit ihm zu sprechen. Sie war sich sicher, dass auch er sie nicht aus den Augen ließ.

Nach dem Konzert standen sie auf. Bewusst vermied sie jeglichen Augenkontakt. Sie verließ die Sitzreihe nach rechts, er nach links. Kein Wort, kein Blick. Als sie aus der Kirche heraustrat, hatte sie ihn bereits aus den Augen verloren, dabei begann nun erst der spannende Teil des Abends. Sie machte sich zu Fuß auf den Weg zum Landwehrkanal. Es waren ein paar Gehminuten, aber sie hatte genug Zeit. Sie hatte auf der Karte geschrieben, dass sie eine Stunde nach dem Konzert im Restaurant Loon sitzen und sich über eine zweite Begegnung freuen würde. Das Loon war ein Restaurant auf einem Schiff, welches am Ufer des Landwehrkanals ankerte. Mit jedem Schritt, dem sie dem Loon näher kam, stieg ihre Anspannung.

Sie sah auf die Uhr. Noch zehn Minuten. Sie hatte für sich bereits festgelegt, genau einen Drink lang zu warten, nicht mehr – nicht weniger. Sie wollte hier nicht den ganzen Abend einsam herumsitzen. Wenn er, inzwischen wusste sie ja, dass es ein er war, wenn er langweilig werden würde, dann könnte sie jederzeit mit Hinweis auf die nervigen Mücken den Abend beenden, ohne dass jemand beleidigt sein müsste. Der Plan schien geradezu perfekt und war bisher auch perfekt aufgegangen.

Er sah auf die Uhr. Seit dem Konzert waren 55 Minuten vergangen. Er hatte das Restaurant gut gefunden und hatte sie bereits auf dem Deck entdecken können, doch er wollte ihre Regeln unbedingt befolgen, damit es zu einer zweiten Begegnung kommen könnte. Er saß am Ufer des Kanals und beobachtete die zahlreichen Wasserläufer, die mutig zwischen den Enten und Schwänen herumliefen. Ab und an musste er seine Hand als Fliegenklatsche einsetzen, um sich der Mücken zu erwehren, die in der lauen Sommerabendluft zu Tausenden über dem Wasser schwebten.

Sein Handy summte. Er hatte eine Nachricht von seinem Freund bekommen, der ihm ein Foto vom Similaungletscher geschickte hatte. Die Nachricht darunter lautete: „Heute eine 12 km Mountain-Bike-Tour gemacht. Komme mir vor, wie auf der Tour de Südtirol.“

Er schaute auf das Foto und lächelte. Normalerweise wäre er jetzt sicher etwas neidisch geworden, aber er sah zu dem Restaurantschiff hinüber, deren Deckbeleuchtung im Abendwind leicht hin und her schwang und aussah wie ein Heer aus Glühwürmchen und dachte bei sich: „Wenn ich dir davon erzähle, wirst du mir kein Wort glauben.“

Als die 59. Minute anbrach, ging er auf den Einlass zum Restaurant zu. Er musste nur das Konzert erwähnen, da wusste die Kellnerin bereits, wohin sie ihren führen musste.

Zum zweiten Mal an diesem Abend näherte ihr sich ein Unbekannter, doch dieses Mal würde es anders sein.


Das Schiff mit den zwei Masten ist das Restaurant Loon,