abc-Etüde, Mall

Die abc-Etüden sind eine Schreibeinladung von Christiane auf irgendwas ist immer

Nach guter Tradition werden die ersten Wörter nach dem Break immer von dem Etüdenerfinder (oder von mir) gespendet. Für die Textwochen 36/37 des Schreibjahres 2021 stammt die Wortspende von Ludwig Zeidler (bloggt nicht mehr). Sie lautet:

Schlick
ominös
putzen.


Mall

Der alte Johannsen war schon immer ein ominöser Fischkopp.

Dass so jemand Fischer werden musste, war ja kaum zu vermeiden, doch selbst unter Fischern war er der verschlossenste und merkwürdigste. Er war nie besonders erfolgreich mit seinen Fängen, aber er war auch nie mit leeren Händen zurückgekehrt.

Der alte Johannsen wohnt in seiner kleinen Kate auf einem Stückchen Land, das es vor zehn Jahren noch nicht gab. Landgewinnung, heißt das Zauberwort. In meiner Jugend wollten mein Vater und ich einmal nach einer Wattwanderung den Weg zum Campingplatz abkürzen und sind dabei fast vom Schlick verschluckt worden. Wir waren in einer Zone der Landgewinnung, aber es war eben noch kein Land sondern fühlte sich an wie Treibsand, oder zumindest so, wie man sich Treibsand eben vorstellt. Was wussten wir Touristen schon von Landgewinnung.

Inzwischen komme ich ab und zu an der kleinen Fischerkate vorbei. Seit zwei Jahren ist der alte Johannsen im Ruhestand und wie man so hört, ist er noch merkwürdiger geworden.

Auch heute fahre ich an der kleinen Hütte vorbei. Ich sehe ihn vielleicht 50 Meter weit im Watt mit einem Besen stehen. Ich halte an, gehe an den Wattrand und sehe ihm zu. Er scheint ganz langsam und sehr konzentriert das Watt zu fegen. Jetzt ist der alten Johannsen wohl doch noch mall geworden, denke ich bei mir. Aber mir geht es kaum besser, denn ich kann mich vom Anblick nicht lösen und schaue ihm zu.

Nach einer Stunde kommt er ans Ufer. Er schaut mich nicht an, deutet auf einen Stuhl und setzt sich selbst in den anderen. „Frisch geputzt“, sagt er und ich wundere mich, was er wohl meinen könnte. Ich fühle mich ein klein wenig unbehaglich, doch dann beginnt sich das Rot der untergehenden Sonne im glatten Watt zu spiegeln. So ein Fuchs, der alte Seebär.


„mall“ ist ein altes norddeutsches Wort für verrückt.

abc-Etüde, The Singing Butler (Kunstetüde)

Die abc-Etüden sind eine Schreibeinladung von Christiane auf irgendwas ist immer

Nach guter Tradition werden die ersten Wörter nach dem Break immer von dem Etüdenerfinder (oder von mir) gespendet. Für die Textwochen 36/37 des Schreibjahres 2021 stammt die Wortspende von Ludwig Zeidler (bloggt nicht mehr). Sie lautet:

Schlick
ominös
putzen.


The Singing Butler

„Sir, meinen Sie wirklich?“

„Pflege ich zu scherzen?“

Er schüttelte den Kopf. Er hatte gelernt, seinem Herrn nicht zu widersprechen egal wie widersinnig, unverständlich oder ominös die Anweisungen auch waren. Manchmal, aber nur manchmal, konnte er sich eine Nachfrage dennoch nicht verkneifen.

„Haben Sie den Plattenspieler aufgezogen?“

„Ja Sir.“

„Sie sollten noch etwas darunter legen, damit er nicht einsinkt und nass wird.“

„Ja Sir“, sagte er und sah sich um. Wo sollte er denn hier etwas zum Unterlegen finden? Sie waren an einem völlig leeren Strand. Schließlich suchte er ein paar Muscheln, schichtete sie auf und stellte den Plattenspieler behutsam darauf.

„Sie kommt.“

Er putzte seine nassen Brillengläser und sah zum Strandhaus. Die Dame des Hauses kam in einem leuchtend roten Kleid auf sie zu. Das Dienstmädchen lief neben ihr her und versuchte in dem böigen Wind verzweifelt den Schirm über Mylady zu halten. Die Dame des Hauses ging sehr langsam und die Mühe, die ihr jeder Schritt machte, war deutlich zu erkennen.

Als sie vor dem Hausherrn stand, lächelte sie ihn mit ihrem blassen, ausgezehrten Gesicht an.

„Darf ich bitten?“, fragte er und verbeugte sich.

Sie nickte nur und schmiegte sich in seinen Arm.

Er wusste, was er zu tun hatte. Er warf den Plattenspieler an, sang so laut er konnte und versuchte gleichzeitig mit dem Dienstmädchen das Paar vor dem Regen zu schützen.

Als die Musik erklang, führte der Hausherr Mylady über den nassen, glitschigen Strand. Sie konnte sich vor Schwäche kaum halten und doch glitt sie barfuß wie eine Elfe über den Schlick. Der Tango, der über den Strand hallte, ließ sie alle ihre Kräfte bündeln, bis ihr Kleid mit dem Abendrot verschmolz.

Die beiden tanzten in den Abend hinein bis der Tag, und nicht nur der Tag, zu Ende ging.


Inspiriert durch das Bild „The Singing Butler“ von Jack Vettriano.

https://wortverdr3her.files.wordpress.com/2021/09/16b5d-19215.jpg

Abc-Etüde, Wat?

Die abc-Etüden sind eine Schreibeinladung von Christiane auf irgendwas ist immer.

Nach guter Tradition werden die ersten Wörter nach dem Break immer von dem Etüdenerfinder (oder von mir) gespendet. Für die Textwochen 36/37 des Schreibjahres 2021 stammt die Wortspende von Ludwig Zeidler (bloggt nicht mehr). Sie lautet:

Schlick
ominös
putzen.


Wat?

Putz dir die Schuhe gründlich ab“, rief sie ihm von weitem entgegen. „Beim letzten Mal hast du das ganze Haus versaut.“

Er nickte, sah betroffen zu Boden. Der Schlick aus dem Watt ging ihm an seiner Anglerhose bis weit über die Knie. Etwas war sogar in die Hose hineingelaufen.

„Weiß du, wie spät es ist?“ Ihre Stimme klang schrill.

Er kannte diesen Ton. Das würde kein gemütlicher Tag werden.

Schuldbewusst murmelte er: „Tut mir leid“, und spülte sich den Schlick von der Hose. Er wusste, warum es jeden Abend später wurde, aber wie könnte er ihr das sagen? Sie würde ihn für verrückt halten. Im Grunde zweifelte er ja sogar an sich selbst.

Alles hatte vor zwei Monaten begonnen. Auf seinem Weg zu den Fischreusen war er plötzlich in eine ominöse Nebelbank gekommen. Die Sonne stand schon viel zu hoch, als dass sich eine solche Nebelbank hätte halten können. Er war einfach hindurchgewatet. Als sich der Nebel lichtete, sah er am Horizont, mitten im Wattenmeer, ein Schloss. Es wirkte, als hätte die Ebbe es zurückgelassen. Eine Halluzination? Er wusste es nicht. Er konnte auch nicht einschätzen, wie weit es entfernt war. Er konnte nichts weiter machen, als da zu stehen und es zu betrachten. Das tat er seitdem jeden Tag ein wenig länger. Inzwischen war er schon zwei Mal auf dem Rückweg von der Flut fast eingeholt worden. Mehrfach hatte er vergessen, seine Reusen zu leeren. Er wusste nicht, was ihn so faszinierte, aber er konnte sich mit jedem Tag schlechter von dem Anblick lösen. Schon jetzt freute er sich auf den Morgen.

„Komm jetzt endlich rein“, rief seine Frau. „Du wäscht schon seit einer Stunde deine dämliche Hose.“

Er sah auf den Schlauch in seiner Hand und den Schlick. Dann ließ er den Schlauch fallen und verließ den Hof.