
Dieser Text entstand durch eine Bildanregung der Impulswerkstatt von Myriade.
Wie das Projekt funktioniert steht hier.
Die Impulse für die November/Dezember-Impulswerkstatt findet Ihr hier.
Die Rose (Teil 4)
„Komm zu mir, Demutatio!“
Der Lehrling ging zu seinem Meister und setze sich zu ihm auf die Bank.
Der Meister sagte nichts sondern blieb stumm sitzen, ohne sich zu ihm umzudrehen. Der Lehrling wurde immer nervöser, aber er hatte gelernt nicht nachzufragen. Seine Neugier jedoch wuchs in ihm, wie die Ranken wilder Brombeeren. Nach und nach überwucherten sie jeden klaren Gedanken.
Endlich atmete der Meister deutlich ein. Er hielt den Atem an in der Hoffnung, dass er nun endlich etwas erfahren würde, doch der Meister atmete gleich darauf ganz entspannt wieder aus. Das konnte noch ewig so gehen, dass wusste er, doch es machte ihn wahnsinnig.
„Wenn du es nicht mehr aushältst, dann schau einmal auf die Pflanze im Torbogen“, sagte der Meister unvermittelt.
Der Lehrling drehte sich blitzartig um. Er sah die etwas kümmerliche Rose an, die sich allen Widerständen zum Trotz in diesem kleinen Bogen eingenistet hatte. Er betrachtete sie eingehend, aber er konnte an dieser kümmerlichen Pflanze trotz aller Bemühungen nichts besonderes erkennen. Er starrte sie an, jedes einzelne Blatt. Was konnte daran besonders sein?
Er drehte sich wieder zu seinem Meister, der ihn immer noch keines Blickes würdigte. Er saß einfach nur da, starrte vor sich hin und atmete ein und aus.
Er fasste all seinen Mut zusammen: „Ich verstehe das nicht Meister. Was sollte ich denn an der Rose sehen?“
„Die Frage lautet vielleicht, was du an ihr nicht bemerkst?“
„Was ich nicht bemerke?“, fragte er erstaunt und drehte sich noch einmal zur Rose um.
„Wenn du diese Rose mit dir vergleichst, was wäre der Unterschied, wo ihr doch beide gerade am gleichen Ort weilt?“
„Ich würde sagen, mich unterscheidet so ziemlich alles von dieser Rose.“
„Ich meinte nicht das Äußerliche.“
„Das verstehe ich nicht“, sagte der Lehrling fast verzweifelt.
„Die Rose war schon lange vor dir hier und sie wird noch lange nach dir hier sein.“
Der Lehrling nickte unsicher und zuckte mit den Schultern.
„Bemerkst du die Unruhe der Rose?“
„Unruhe? Welche Unruhe? Das Ding ist doch stoisch wie ein Fels.“ Kaum hatte er es gesagt, setzte er sich gerade neben seinen Meister und versuchte sich so gut er konnte, auf seinen Atem zu konzentrieren.
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