abc-Etüde, Vermögen verpflichtet

Die abc-Etüden sind eine Schreibeinladung von Christiane auf: irgendwas ist immer

Schreibeinladung für die Textwoche 05.21 | Extraetüden

Extraetüde heißt: von den Begriffen des abgelaufenen Monats, das sind sechs, sucht man sich fünf aus und verpackt die in einen Text von maximal 500 Wörtern. Zeit: eine Woche!

Die Wörter im Monat Januar spendeten Ludwig Zeidler und Ulrike von Blaupause7. Sie lauteten:

Zetermordio, weichmütig, backen
Lautsprecher, orange (NICHT die Frucht, die Farbe), erschüttern.


Liebe Lesenden,

alle Ähnlichkeiten mit lebenden oder existierenden Personen und Unternehmen sind rein zufällig. Diese Etüde soll nur aufzeigen, wie die eine oder die andere Person auch denken könnte, ohne dabei jemanden anzugreifen oder vorzuführen zu wollen. Dies soll auch keine Verschwörungstheoriediskussion anstoßen. Ich möchte nur beispielhaft zeigen, dass das Leben komplex ist.


Vermögen verpflichtet

Zügig betrat er sein Büro. Der Berg an Arbeit, der sich in den zwei Wochen Sitzungspause angesammelt haben würde, bedrückte ihn jetzt schon.

„Kommen Sie ruhig rein. Was erwartet mich heute an Entscheidungen in der Sitzung?“ Er sah auf seinen Schreibtisch, auf dem ein kleiner Kuchen stand, den seine Vorzimmerdame ihm zur Begrüßung gebacken hatte. Sie wusste einfach immer, wie sie seine Laune verbessern konnte. „Dann legen Sie mal los, Pfitzner!“

Sein Sekretär räusperte sich. „Nun, als erstes steht die Genehmigung für das Telekommunikationsunternehmen Orange an. Die möchten in der Region zwölf 5G Masten bauen.“

„Das klingt doch mal innovativ.“

„Darf ich darauf hinweisen, dass es bereits 17 Bürgerinitiativen dagegen gibt?“

„Oh“, sagte er erstaunt und sah seinen Sekretär an. „Dann müssen wir wohl nein sagen, Ich will meinen Wahlkreis ja nicht verärgern. Lieber ein weißer Fleck als ein oranger Fluch“, sagte er lachend.

„Das würde ich nicht tun.“ Der Sekretär und er schauten auf die Couch an der Seite, auf der eine Frau in einem strengen Businesskostüm saß, die unter ihrem frechen blonden Pony hervor lächelte und sagte: „Sie besitzen Aktien der Firma Telekom Orange im Wert von ca. 30.000 Euro. Eine Entscheidung gegen die Firma würde den Aktienwert deutlich reduzieren.“

Er nickte bedächtig und sah dann zu seinem Sekretär. „Das ist meine Investment- und PR-Beraterin.“ Er lächelte. „Wenn ich die nicht hätte! Also: die Digitalisierung ist ein nationales Projekt, das ich selbstredend unterstützen werde. Nächster Punkt.“

Der Sekretär zog erstaunt die Augenbrauen hoch. „Die aktuellen Infektionszahlen sind so hoch, dass eine dreiwöchige Schließung aller Unternehmen zur Diskussion steht.“

„Na endlich greifen wir mal richtig durch.“

„Das wird viele Kleinunternehmer in den Ruin treiben.“

„Ach die werden sich danach schon wieder aufrappeln. Also: ich bin dafür.“

„Viele Arbeitnehmer in der Region arbeiten direkt oder indirekt in der Automobilindustrie“, sagte Pfitzner kleinlaut.

„Die Gesundheit geht vor!“

„Ähem“, räusperte sich die Beraterin und lehnte sich entspannt zurück.

Er sah zögernd zu ihr.

„Vielleicht erinnern sie sich, dass ich gerade mit dem großen Bremsenhersteller der Region über einen lukrativen Platz im Aufsichtsrat für sie verhandle.“

Er drehte sich zu seinem Sekretär.

„Auf keinen Fall eine allgemeine Schließung. Wer hat sich denn so etwas ausgedacht?“

Der Sekretär sah ihn erschüttert an und zuckte mit den Schultern.

„Weiter!“

„Es soll ein Medikament eine Zulassung erhalten. Die Studienlage ist jedoch eher kritisch. Das Gesundheitsministerium rät davon ab.“

„Na dann lassen wir es eben“, sagte er ganz weichmütig. „Wir wollen ja die Gesundheit der Wähler erhalten.“

„Ähem“, sagte die Beraterin wieder.

Zetermordio! Was ist denn jetzt schon wieder?“

„Hinter diesem Medikament steht ein Pharmaunternehmen, welches ihnen und ihrer Partei jedes Jahr ca. 75.000 Euro spendet.“ Stille breitete sich aus. „Nur mal so.“ Sie grinste.

„Ich bin für die Zulassung. Der Nutzen ist eindeutig höher als das Risiko“, sagte er fast empört.

In diesem Moment ging der Lautsprecher über der Tür an und gab bekannt, dass die Sitzung in 10 Minuten beginnen würde.


28 Gedanken zu “abc-Etüde, Vermögen verpflichtet

      1. Politik kann zwar nicht ohne die Berücksichtigung wirtschaftlicher Aspekte geschehen, aber weder ist das gleichbedeutend mit Wirtschaftsinteressen und Lobbyismus, noch sollte es die fatale Verknüpfung zum Erfolg karriereorientierter Interessenvertreter geben, wie sie verschiedentlich nur allzu klar und geradezu schamlos erkennbar sind.

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  1. So kommt es einem manchmal vor, ja. Hach, was waren das noch für Zeiten, wo Adel/Vermögen zu sozialem Denken verpflichtete – soll es ja mal gegeben haben … 😉
    Danke dir, mag ich sehr.
    Morgenkaffeegrüße aus dem eisigen Hamburg! 😀

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  2. Ist sehr realitätsnah. Mich erinnert das an einen dokumentierten Vorgang hier, wie der damalige sozialistische MP Andreas Papandreou (AP), der mit Slogans von sozialer Gerechtigkeit etc pp 1981 die Wahlen gewonnen hatte, reagierte, als sein Wirtschaftsminister im ersten Siegesrausch einen Gesetzesentwurf zur Vermögenssteuer vorlegte. Die Bürger, befragt, waren einverstanden,es gab sogar recht hohe Zahlungsbereitschaft bei den am meisten Betroffenen ….Dann aber erfuhr AP, dass er persönlich auch betroffen wäre, und pfiff das Gesetz zurück. Sein Minister Manolis Drettakis trat darauf zurück.

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  3. Lieber Christian,
    eindrucksvolle Geschichte, die sich ganz sicher in vielen oberen Etagen genauso abspielen wird! Stets eine Gratwanderung ohnegleichen und oftmals unbeachtet der Schaden an der Bevölkerung, wenns ums Geld geht.
    Klasse gemacht und dargestellt!
    Liebe Grüße
    Heike

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  4. Pingback: Schreibeinladung für die Textwochen 06.07.21 | Wortspende von Wortman | Irgendwas ist immer

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