abc-Etüden, Lebenslinien

Die abc-Etüden sind eine Schreibeinladung von Christiane auf: irgendwas ist immer

Die Wörter für die Textwochen 03/04 des Schreibjahres 2021 stiftete Ulrike mit ihrem Blog Blaupause7. Sie lauten:

Lautsprecher
orange (NICHT die Frucht, die Farbe)
erschüttern.


Lebenslinien

Heute war sein Tag. 17 Jahre hatte er warten müssen.

Wie alle siebzehnjährigen hatte er die letzte Nacht zum ersten Mal in seinem Leben nicht im Elternhaus verbracht. Es war Tradition, dass alle Anwärter die Nacht gemeinsam in der Dorfhöhle verbrachten. Er hatte kaum geschlafen.

Die Frauen aus seinem Dorf erwarteten die jungen Männer. Heute war ein Feiertag und so wurde jeder mit den Farben des Lebens geschmückt, die er sich im Laufe seines Lebens verdient hatte. Die Frauen würden sie ihm direkt ins Gesicht malen.

Eine blaue Linie, weil er das Wasser bezwungen hatte.

Eine braune, die jeder bekam, wenn man zehn wurde.

Eine grüne, weil er die Tiere und Pflanzen seiner Umgebung kannte.

Eine gelbe, weil er ein erfolgreicher Jäger war.

Mehr Linien konnte man mit siebzehn noch nicht haben. Viele der Gleichaltrigen hatten nur zwei oder drei Linien. Ehrfürchtig schaute er in die Gesichter der Alten, die voll waren mit weiteren farbigen Linien.

Heute könnte die orangene Linie dazu kommen. Orange stand für das Feuer. Er musste den Dorfbewohnern beweisen, dass er das Feuermachen beherrschte. Noch nie in seinem Leben hatte er einen Feuerstein in der Hand gehabt.

Der Lautsprecher, ein Onkel von ihm, stand auf dem Felsen und gab den Startschrei. Er war als Siebter dran. Er durfte nicht zusehen, wie die anderen es machten, aber die Reaktionen der Dorfbewohner zeigten das Ergebnis überdeutlich.

Er war dran. Drei Jungen hatten es bisher geschafft, zwei hatten aufgegeben und einer hatte sich an den Steinen verletzt. Die Dorfbewohner waren erschüttert. Verletzungen gab es bei der Feuerprobe eigentlich nie.

Ehrfürchtig nahm er die faustgroßen Steine entgegen.

„Haue mit Links bis ganz nach unten, nur dann fliegen die Funken“, hatte seine Großmutter immer gesagt.

Er hob den linken Arm und schlug dann fest auf den anderen Stein.

19 Gedanken zu “abc-Etüden, Lebenslinien

  1. Und so wird eine Herausforderung auch zu einer Geschichte darüber, wie gut er von den Generationen vor ihm darauf vorbereitet wurde/werden konnte, über Leben in der Gemeinschaft etc. 🤔
    Ich mache es ja auch oft nicht anders, aber ich frage mich natürlich, wie es weitergeht … 😉 Gefällt mir sehr.
    Montagmorgenkaffeegruß 😁☁️☕🍩👍

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      1. Ja, ich glaube, wir hatten im Herbst keine *nick*. Irgendwann ist eben immer das erste Mal 😉
        Die Schreibeinladungen kommen am 1. und am 3. Sonntag des Monats raus. Die Frage ist, was macht man, wenn der Monat 5 Sonntage hat, Schreibzeit verlängern oder Veröffentlichung verschieben oder, oder?
        Und da sind mir die Extraetüden eingefallen: Im Prinzip dasselbe, nur bisschen anders.

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  2. Gefällt mir. In den 80er und 90er Jahren gab es eine Romannische innerhalb der historischen Romane, die in prähistoischer Zeit spielten, und die fand ich, wenn man den allzu übertriebenen Romantikfaktor übersehen mochte, wegen der Bescheibungen der mutmasslichen Lebensweisen gut, auch wegen solcher Einfälle wie deine Verwendung des „Lautsprechers“. Ich wünsche mir direkt mehr davon.

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  3. Wieder einmal ein prima, klasse und toll…lieber Christian!

    Achso- genial hab ich doch glatt noch in der Aufzählung vergessen 😉
    Meine Bewunderung für soviel Kreativität sei dir gewiss *lächel*
    Liebe Spätnachmittagsgrüße
    Heike

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  4. Pingback: Schreibeinladung für die Textwoche 05.21 | Extraetüden | Irgendwas ist immer

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