abc-Etüde, Guten Morgen

Bild: Irgendwas ist immer

Die abc-Etüden sind eine Schreibeinladung von auf irgendwas ist immer.

Die Wortspende für November bzw. für die Textwochen 45, 46, 47 und 48 des Jahres 2023 kommt von Myriade und ihrem Blog la parole a été donnée à l´homme pour cacher sa pensée. Sie lautet:

Horizont
Kleinkariert
Eintreten.


Guten Morgen

Er steht an der Reling und schaut auf das pechschwarze Meer hinaus. Unsichtbare Wellen plätschern gegen die Bordwand, spielen ein leises Lied der Sehnsucht und lassen die Fähre leicht wanken. Er kneift seine Augen zusammen, doch noch ist nicht der geringste Lichtschein zu erkennen. Noch ist außerhalb des Schiffes nur Nacht. Es ist, als gäbe es um ihn herum keine Zeit und keine Welt. Für einen Augenblick, einen Wellenschlag lang, fühlt er sich schwerelos.

Er wartet auf diesen besonderen besonderen Moment, wenn der Tag über dem Meer geboren wird, wenn der erste Lichtschein die Linie am Horizont zieht, wenn das Licht in die Dunkelheit der Nacht eintritt.

Er schaut in die unendliche Dunkelheit hinaus, in der das Meer nur zu erahnen ist. Er hatte sich schon immer zum Meer hingezogen gefühlt. Als Kind war er eine echte Wasserratte gewesen und später war die Nähe zum Wasser für ihn der Inbegriff von Entspannung gewesen. Für ihn fühlt sich nichts so sehr nach Heimat an, wie der Blick auf das Meer. Dennoch hätte er nie geglaubt hier zu leben. Was, außer ihm selbst, hatte ihn eigentlich davon abhalten? Letztlich braucht es nur den Mut, sich den Wellen des Lebens entgegenzustellen, statt sich antriebslos treiben zu lassen. Er hat den Mut gehabt und nun steht er hier und hat das Gefühl, dass mit dem Tag ein neues Leben beginnt. Er grinst bei dem diesem Gedanken und findet ihn ein wenig zu pathetisch, doch er beschließt nicht so kleinkariert zu sein, sondern sich daran zu erfreuen. Es braucht eben nur einen winzigen Moment, um ein ganzes Leben zu ändern.

Ein sanftes Lächeln setzt sich auf sein Gesicht, als sich die erste zarte Linie am Horizont zeigt. „Guten Morgen neues Leben“, flüstert er in den Wind hinein.

Wortverdreher: Fähre nach Amrum am 25.11. um 8:00 Uhr

abc-Etüde, Das Ende

Bild: Irgendwas ist immer

Die abc-Etüden sind eine Schreibeinladung von auf irgendwas ist immer.

Die Wortspende für November bzw. für die Textwochen 45, 46, 47 und 48 des Jahres 2023 kommt von Myriade und ihrem Blog la parole a été donnée à l´homme pour cacher sa pensée. Sie lautet:

Horizont
Kleinkariert
Eintreten.


Das Ende

Was hatten sie ihm nicht alles erzählt: die Erde ist eine Scheibe; die Erde ist eine Kugel; die Erde ist der Mittelpunkt des Universums; die Erde ist ein blauer Planet.

Manches davon konnte er sich vorstellen. Anderes jedoch, auch wenn er sich keineswegs für kleinkariert hielt, schien ihm unmöglich. Aber all seine Vorstellungen endeten nun hier, vor dieser Tür.

Wie konnte es diese Tür geben? Nichts von dem, was er über das Leben und die Erde wusste, passte zu dieser Tür. Sie war schlicht, in einem matten weiß und mit einer einfachen, goldschimmernden Klinke. Eine Tür hinter der er unter anderen Umständen einen Flur, eine Küche, eine Kammer oder ein Klo erwarten würde. Eine Tür durch die er bedenkenlos eintreten würde. Doch nicht hier. Nicht an diesem Ort.

Es hatte ihn sechseinhalb Monaten gekostet hier her zu kommen, zum vermeintlichen Ende der Welt. Ein Ende, dass es nicht geben dürfte und doch stand er hier und die Welt endete an dieser Tür, einfach so.

Ein Gefühl der Enttäuschung aber auch der Wut ergriff ihn. Wie konnte es sein, dass diese Welt ein Ende hatte? Wie konnte es sein, dass die Grenzen dieser Welt eine einfache Tür sind.

Doch in all seinem Zorn, regte sich auch etwas Neugier. Was lag hinter dieser Tür? Eine andere Welt? Ein Paralleluniversum? Eine verkehrte Welt? Das Nichts? Alles?

Noch einmal las er die Aufschrift auf der Tür: Das Ende des Horizonts.

Hier endete also alles, doch würde es hier auch beginnen?

Er griff zur Klinke. Sie war kühl und ließ sich ohne jeden Kraftaufwand herunterdrücken.

Er atmete tief ein. Er würde einen Blick hinter die Welt werfen, auf die andere Seite von was auch immer.

Schwungvoll riss er die Tür auf und blickte in zwei ihm wohlbekannte Augen, die neugierig zurückblickten.