
Die abc-Etüden sind eine Schreibeinladung von auf irgendwas ist immer.
Die Wörter für die Textwochen 42/43 des Schreibjahres 2021 stiftete die Frau Puzzleblume mit ihrem Blog Puzzle❀. Sie lauten:
Biedermeier
niederträchtig
flöten.
Familientradition
Der Schweiss lief ihm bereits kalt den Rücken herunter. Er wusste, gleich wäre er dran und es würde kein Entkommen geben. Alle würden sie ihn anstarren und er würde versagen, jämmerlich versagen. Es war ja nicht so, dass er es nicht versucht hätte, aber er hatte einfach kein Talent dafür. Leider würde er mit dieser Ausrede nicht durch kommen, ganz im Gegenteil. Insbesondere sein Großvater würde eine fehlerfreie Darbietung von ihm erwarten. Das war immerhin eine Familientradition und in Sachen Tradition war sein Großvater ein echter Biedermeier.
In den letzten Jahren hatte seine Schwester die Aufgabe immer mit Bravour gelöst, doch in diesem Jahr war er dran. Seine Schwester war der Meinung, er wäre nun alt genug dafür. Er fand, das war eine niederträchtige Lüge, aber seine Eltern hatten dem zugestimmt. Immerhin hatte das Gespräch im August stattgefunden, so dass er ausreichend Zeit zur Vorbereitung gehabt hatte. Zugegeben, vier Monate scheinen lang, aber für jemanden ohne Talent war es geradezu ein Wimpernschlag.
Gestern hatte er noch versucht, sich mit Bauchschmerzen frei zu kaufen, doch alles, was er bekommen hatte, waren eine Wärmflasche und ein Karamelbonbon. Es führte einfach kein Weg daran vorbei.
Der peinliche Moment rückte immer näher. Er überlegte, ob er simulieren sollte, sich übergeben zu müssen. Wobei er da vielleicht näher dran war, als er es sich selber eingestehen wollte. Doch irgendwie brachte er es nicht übers Herz. Er wusste nicht, was die größere Katastrophe sein würde: Wenn er die Tradition unterbräche oder wenn er sich als völlig unfähig präsentieren würde. Es war die Wahl zwischen Pest und Cholera.
Das Kaffeegeschirr wurde abgeräumt. Freudestrahlend und voller Erwartung baute seine Großmutter den Ständer auf. Er stellte sich davor, damit es wenigstens so aussah, als würde er es versuchen. Dann nahm er sein Instrument und begann „Stille Nacht“ zu flöten.
Ach der Arme. Vollstes Mitgefühl. Und toll geschrieben
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Es tat mir auch leid. Vielen Dank! 😊🙏🌻
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Schön, ich gebe zu, dass ich von Anfang an ahnte, worauf es hinauslaufen würde, aber das soll die Kunst der Etüde nicht schmälern. Sehr nachvollziehbar, sehr gut geschrieben, der Junge hat sich seine Geschenke redlich verdient. Gnädig, dass du an der Stelle abbrichst – was für ein Horror, solche Traditionen! 🤔🙄
Morgenkaffeegrüße 😁⛅☕🥐👍
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Naja, da das Wort flöten ja gegeben war, war die Überraschung am Ende nicht so groß.
Morgenkaffeegrüße 😊🙏🌻
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Wer immer ebenfalls Gedichte aufsagen oder Weihnachtslieder flöten musste, bevor die Geschenke beschert wurden, kennt das Leid. Aber wenn hier die Geschwister nicht „gegeneinander antreten“ mussten, verstehe ich, dass die Schwester den Auftritt lieber an den kleinen Bruder weitergereicht hat, nachdem sie vermutlich einige Jahre lang das zweifelhafte Vergnügen hatte.
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Ja, so eine Pflicht gerade zu so einem Moment ist aber auch eine ganz schöne Belastung.
Vielen Dank 😊🙏🌻
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Ohje, die Situation kenne ich. Das bin quasi ich am Klavier jedes Jahr an Weihnachten. 😉 Schön geschrieben. Ich habe mitgefühlt.
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Oh, das tut mir Leid. Immer noch? Vielen Dank 😊🙏🌻
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Nur wenn ein Klavier in der Nähe ist. 😅
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Der Arme… Ich kann seine Angst spüren, ein derartig eintöniges Musikstück in die Blockflöte pfeifen zu müssen 😉 … Ich selbst hatte es besser mit den biedermeier’schen Anflügen einer liberalen Familienstruktur: ich ging mit dem Instrument schon bald spielerisch um und meine Umgebung fand Gefallen daran, daß ich zum Stück, das nicht immer ‚Stille…‘ war, den Gesang in die Interpretation miteinbaute – eine gute Vorübung für den späteren Umgang mit Klarinette und Sax der folgenden wilderen Jahre.
Sehr rund und gekonnt kontrapunktiert übrigens, finde ich die schriftliche Darbietung … 😉
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Vielen Dank, mir gefällt der spielerische Umgang. Spielen ist die einzige nachhaltige Form von Lernen.
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Bei Blockflöte stellen sich mir die Nackenhaare!
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Mir auch, aber bei mir hat das was mit einem traumatisierenden Musikunterricht zu tun. Wobei die Szene nicht unähnlich ist.
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