abc-Etüde, Reingefallen

Die abc-Etüden sind eine Schreibeinladung von auf irgendwas ist immer

Die Wörter für die Textwochen 40/41 des Schreibjahres 2021 stiftete Yvonne mit ihrem Blog umgeBUCHt. Sie lauten:

Geheimkünstler
sperrig
suggerieren.


Reingefallen

Nach der Klingel stürmten die Kinder wie ein wilder Mob aus dem Klassenzimmer. Jens packte in Ruhe seine Tasche und ging dann zu seinem Kollegen, der in der letzten Reihe gesessen und sich die letzte Stunde angesehen hatte „Und, was sagst du?“.

Sein Kollege stand nachdenklich auf. „Ich bin schwer beeindruckt.“

„Wie meinst du das?“

„Ich habe diese Klasse noch nie…“ Er machte eine Pause. „Noch niemals, nicht einmal für drei Minuten, so ruhig gesehen wie bei dir.“

„Ach nun übertreib mal nicht.“

„Nein wirklich. Was hast du mit denen gemacht, du alter Geheimkünstler? Hast du denen Ritalin-Smarties gegeben?“

Jens lachte etwas unsicher auf. „Nein, ich versuche lediglich die guten Seiten der Kinder in den Vordergrund zu stellen.“

„Ja, tun wir das nicht alle? Aber jetzt mal im Ernst!“

„Ja eben, jetzt mal im Ernst! Wie oft sagst du in einer Stunde, dass die Kinder ruhig sein oder dass sie sich setzen sollen?“

Sein Kollege kratze sich am glattrasierten Kinn. „Ich würde sagen so ein, zwei, dreitausend Mal?“

„Genau das meine ich! Und wie lange hält die Wirkung an?“

„Ich würde sagen so ein, zwei, manchmal drei Sekunden?“

„Siehst du? Das nennt man Kritikfalle. Eine verstärkte Kritik ruft oft das kritisierte Verhalten verstärkt hervor. Das bedeutet meist mehr Kritik und noch mehr Störung und am Ende wird den Kindern suggeriert, dass es nur um die Störungen geht. “

„Ja aber anders hören sie doch überhaupt nicht auf, Krach zu machen.“

„Eben doch. Das hast du doch gesehen. Ich weiß, das ist ein sperriger Gedanke, den man kaum in seinen Kopf bekommt, aber ich frage dich: Wie oft habe ich ermahnt?“

Sein Kollege richtete seinen Blick an die Decke und ging in Gedanken die Stunde durch. Dann sah er Jens erstaunt an.

„Probier es mal aus. Weniger ist manchmal mehr.“


Inspiriert durch die Beschreibung eines Experiments, in dem gezählt wurde, wie viele Schüler:innen innerhalb einer Unterrichtseinheit aufgestanden waren und in welchem Verhältnis dies zu den Ermahnung der Lehrkraft stand. Es zeigte sich, je mehr Ermahnungen desto mehr Schüler:innen verließen ihren Platz. Der „Bestwert“ an sitzenden Schüler:innen wurde erreicht, als keine Ermahnung ausgesprochen wurde. (Lukas, Elisabeth: Heute ist der erste Tag vom Rest deines Lebens, Butzon & Berker, S. 68 ff.)

18 Gedanken zu “abc-Etüde, Reingefallen

    1. Ich muss gestehen, dass ich, als ich noch vor der Klasse stand, auch des Öfteren mahnen musste. Aber da unser Gehirn schlecht mit dem Wort „nicht“ umgehen kann, erscheint es mir logisch, dass es NICHT so sinnvoll ist, immer zu sagen, was die Schüler:innen nicht tun sollen.
      Kaffeegrüße 😊☕️🌸

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      1. Auch Erwachsene mögen in der Regel nicht, dass man ihnen sagt, was sie NICHT tun sollen 😉Rückfrage: Was für eine Klassenstufe war das, sprich, wie alt waren die Kids? Gilt das für jedes Alter? 😀☕🍪👍

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      2. Also ich hatte Schüler:innen von 17 bis 40
        Aber ich habe damals auch nur ermahnt, wenn es gar nicht mehr ging
        Ich werde mal bei meinen Seminargruppen darauf achten, wobei die immer so diszipliniert sind 😊

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  1. Als Ergänzung zu diesem interessanten Text vielleicht noch: Druck erzeugt Gegendruck. So ist es oft besser, mit einer Bewegung zu gehen, als sich gegen sie zu stemmen. Ich konnte das bei Kindern mit Verhaltensstörungen ausprobieren, es klappt aber nur, wenn die Störung spontan und nicht absichtlich erfolgt – also wenn die Schüler nicht stören WOLLEN.

    Gefällt 2 Personen

      1. „ins Leere laufen lassen“ klingt gut, ist aber bei absichtlichen Störungen wohl nicht möglich. Da ist auch mit Ermahnungen nichts getan, da muss man sich andere Strategien ausdenken. Ich meinte die Störungen, die durch das Bedürfnis von Kindern, miteinander zu sprechen, sich zu bewegen, aktiv zu sein, im Unterricht auftreten. Da ist es gut, „mit ihnen zu gehen“ anstatt sie zu bekämpfen. Also sie zu eben diesen Aktivitäten aufzufordern, sie zu ermutigen, bis sie sich beruhigt haben.

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  2. Pingback: Schreibeinladung für die Textwochen 42.43.21 | Wortspende von puzzleblume | Irgendwas ist immer

  3. Sehr interessanter Ansatz. Erinnert mich unter anderem daran,dass in meinem Jahrgang damals gestrickt wurde, was das Zeug hielt. Und wir konnten uns dabei super konzentrieren, weil die Hände etwas zu tun hatten, der Kopf dabei zum Denken frei war.
    Bei meiner jüngsten Tochter ist es das Zeichnen im Unterricht. Erst wollten ihre Lehrer das verhindern und meinten, sie wäre abgelenkt, aber irgendwann merkten sie, dass sie auf alles Antworten hatte und fast in jedem Fach die Klassenbeste ist. Außer Sport…
    Und bei vielen anderen Kindern ist es eben so, dass ihnen Bewegung hilft. Ich habe letztens eine Doku aus Schweden gesehen, da werden in Klassenräumen Laufbänder aufgestellt für Kinder mit großem Bewegungsdrang.
    Naja, in unseren Schulen ist für individuelle Bedürfnisse einfach zu wenig Platz…

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