abc-Etüde, office distancing

Die abc-Etüden sind eine Schreibeinladung von Christiane auf: irgendwas ist immer.

Diese Mal also eine Extraetüde: Von den Begriffen des abgelaufenen Monats, das sind sechs, sucht man sich fünf aus und verpackt die in einen Text von maximal 500 Wörtern.

Die Wörter im Monat Mai spendeten Nina (Das Bodenlosz-Archiv) und Bernd (Red Skies Over Paradise) Sie lauteten:

Korsett, rechtsdrehend, dampfen
Baracke, lau, widerfahren.


office distancing

Missmutig schaltete er seine Kamera an. Die heutige interne Fortbildung und Teamsitzung in einem, versprach keinen großen Spaß. Er loggte sich ein und bekam als erstes sich selbst zu sehen. Er sah müde und lustlos aus. In dem düsteren Licht seiner kleinen Schreibtischlampe, wirkte es so, als würde er in einer Baracke sitzen. Wieso war es bei den anderen immer so hell? Die mussten ja eine ganze Lampenbatterie aufgebaut haben, dachte er bei sich.

Das Seminar begann, wie erwartet. Sein Chef begrüßte alle ganz überschwänglich und insbesondere die Dozentin. Die acht Videobildchen konnten nicht unterschiedlicher sein. Sein Kollege Franz schien im Unterhemd dazusitzen, was die Vermutung aufkommen ließ, er würde nicht einmal eine Jogginghose tragen. Seine Kollegin Sylvia hingegen saß in einer hübschen Rüschenbluse kerzengerade vor der Kamera, als würde sie in einem stählernen Korsett stecken. Sie hatte sich sogar Blumen auf den Schreibtisch gestellt. Murat versteckte sich mal wieder hinter seiner großen Teetasse, aus der es noch immer heiss dampfte, und Simone war mal wieder dabei, ihre Kinder zu beruhigen. Sie war so schnell aufgesprungen, dass er nur ihren leeren Stuhl sehen konnte, der eine einsame rechtsdrehende Pirouette vollführte. Das Bild von Amber war wie immer so verpixelt, als würde sie einen kubistischen Filter von Georges Braque benutzen. Irgendwo bellte ein Hund und Hartmut war gerade mal wieder aus der Leitung geflogen. So weit, so gut – alles wie immer, dachte er.

Der anschließende Impulsvortrag war so ziemlich das Schlimmste, was einem an einem Montagmorgen widerfahren konnte. Die Präsentation zeigte auf der zweiten Folie mit der Beschriftung „2/37“ bereits das drohende Ausmaß der Katastrophe. Er sah auf den inzwischen nur noch lauen Rest Kaffee in seiner Tasse und ärgerte sich, dass er nicht besser vorbereitet war.

Das Unheil nahm seinen Lauf. In der letzten Teambesprechung hatten sie beschlossen, bei allen Sitzungen die Kameras immer an zu lassen, so war ein Entkommen unmöglich. Simone war bei Folie vier eingestiegen, bis eines ihrer Kinder plötzlich breit in die Kamera grinste, danach war das Bild erst schwarz und dann verschwunden. Er fragte sich, was ihr wohl widerfahren war, aber vermutlich würde sie morgen in der Teamsitzung wieder allen ihr Leid vom Homeschooling klagen. Bei Folie 12 war Manuela eingenickt und bei Folie 21 hatte Murat seine Teetasse endgültig so positioniert, dass außer ihr nichts mehr zu sehen war.

Hartmut hatte sich bereits vier mal neu einloggen müssen. Die Firma hatte ihm eine neue Leitung und einen Laptop spendiert, aber ohne nennenswerten Erfolg.

Bei Folie 26 war er plötzlich gefragt. Er sollte seine Ideen zum neuen Projekt vorstellen. Er nahm seine handgeschriebenen Notizen und las daraus vor. Als er fertig war, sah er auf allen Bildern winkende Hände. Er freute sich, weil er zunächst dachte, es wäre eine Beifallsbezeugung, doch sie wollten ihn lediglich darauf hinweisen, dass er sein Mikro nicht angeschaltet hatte. Der Tag wurde besser und besser.

10 Gedanken zu “abc-Etüde, office distancing

  1. Ich glaube, diese Sorte Konferenz hasst jede*r wie die Pest, sei es on- oder offline 😉
    Aber so sehr wie ich beim Lesen des letzten Absatzes gegrinst habe: Da er vorher alle hören konnte, hätte doch bloß mal einer (der Chef?) brüllen müssen, um ihn auf sein Mikro aufmerksam zu machen, oder bin ich da in irgendwelche Feinheiten nicht eingeweiht? 🤔
    Ich danke dir und wünsche dir ein entspanntes Wochenende und (aus scheinbar gegebenem Anlass) einen besseren Start in die neue Woche 😉
    Morgenkaffeegrüße 😁🌞☕🍩👍

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  2. Oh, welche Qual ist denn das! Persönlich bin ich nicht davon betroffen, aber ich höre es von meinem Sohn, der – weil systemrelevanter Bahnangestellter – auch 4 Tage die Woche im Homeoffice sitzt und mir von den langatmigen Team-Sitzungen berichtet, wenn er nicht als Ausrichter dran ist. Bei ihm läuft es dann zackiger, weil er es einfach systematisch vorbereitet und dann kann man das in kurzer zeit durchziehen.

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    1. Ja, manchmal kann man es dadurch forcieren, aber wenn man eine Frage in die virtuelle Runde stellt, kann es auch passieren, dass gefühlt ewig nichts passiert, weil jeder hofft, dass jemand anderes als erstes sein Mikro aktiviert.

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  3. Pingback: Schreibeinladung für die Textwochen 23.24.21 | Wortspende von nellindreams | Irgendwas ist immer

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