abc-Etüde, Segen der Technik

Die abc-Etüden sind eine Schreibeinladung von Christiane auf: irgendwas ist immer.

Die Wörter für die Textwochen 10/11 des Schreibjahres 2021 stiftete René mit seinem Blog BerlinAutor. Sie lauten:

Klassenkeile
schwammig
trödeln.


Segen der Technik

Kurz vor acht. Für einen Montagmorgen war er fast entspannt. Abgesehen davon, dass er den alten Laptop nun bereits zum dritten Mal starten musste, und nicht sicher war, ob er es noch rechtzeitig schaffen würde. Wenn diese alte Technik nicht so trödeln würde, dann hätte er in den letzten Wochen eine Pünktlichkeitsquote geschafft, die er sich selbst nie zugetraut hätte.

Endlich war das Browserfenster aufgegangen. Er griff zu seinem Headset und schaltete Ton und Kamera ein. Ein freundliches „Guten Morgen“ kam ihm entgegen. Das kannte er so nicht und es verursachte fast jeden Morgen eine Gänsehaut. Noch im letzten Schuljahr hatte er sich heimlich vom Seiteneingang ins Schulgebäude geschlichen, um den Rich-Kids, wie er sie nannte, zu entgehen. Die saßen jetzt vermutlich alle mit ultramodernen Tablets am großen Esstisch, während er hier in der Küche gerade genug Platz und halbwegs stabiles W-Lan hatte. Aber die Technik war nicht das Entscheidende. Das Entscheidende war, dass sie ihn nicht erreichen konnten. Sie saßen Zuhause und er saß Zuhause. Kein Schubsen, kein Spucken, keine Klassenkeile. Im schlimmsten Fall kam seine kleine Schwester und wollte mit ihm spielen.

Der Lehrer las die Noten der letzten Hausarbeit vor. Er hatte eine Zwei. Eine Zwei! Seine Mutter würde fast ohnmächtig werden vor Stolz. Er hatte im Homeschooling fast all seine Noten verbessern können. Jeden Abend sah er die Nachrichten. Je schwammiger die Meldungen in Bezug auf eine Öffnung waren, desto mehr freute er sich. Aus seiner Sicht könnte das Homeschooling noch bis zu seinem Schulabschluss in zweieinhalb Jahren weitergehen. Dann hätte er eine echte Chance auf einen guten Abschluss. Und dann? Dann würde er die Welt erobern.

Die Welt? Ihm fiel auf, dass er in diesem Jahr noch kein einziges Mal die Wohnung verlassen hatte. In diesem Moment brach sein W-Lan zusammen.

12 Gedanken zu “abc-Etüde, Segen der Technik

      1. Für meinen 10-jährigen Sohn hatte / hat es Vor- und Nachteile. Nur wir Eltern können es auf Dauer nicht leisten. Hätte ich gewusst, dass ich mal Heim-Lehrer sein muss, hätte ich Heim-Lehramt studiert 😉
        Aber interessanter Gedankengang …

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      2. Es hat eben immer zwei Seiten. Ich glaube auch, dass die Zahl derer, die wirklich davon profitieren sehr gering seine wird. Aber gerade für diese Kinder wäre zu prüfen, ob wir technisch etwas aus der Pandemie gelernt haben.

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      3. Ich denke schon. Nämlich, dass unser Schulsystem nun mal aktuell nicht für Online-Unterricht oder Home Schooling ausgelegt ist. Denn das besteht ja nicht daraus, uns am Anfang der Woche ein paar PDF zuzuschicken, die wir dann ausgefüllt und eingescannt zurückschicken müssen …

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  1. Daran habe ich noch gar nicht gedacht, aber es ist eigentlich sehr logisch. Wäre ich heute noch schulpflichtig, würde ich mich vermutlich am meisten über den Ausfall der Sportstunden freuen, die habe ich dank meiner Sportlehrerin aufrichtig gehasst. 🤔😉
    Danke dir für den unerwarteten Aspekt! 😁👍
    Morgenkaffeegrüße 😁🌥️☕🥐👍

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  2. Du hast diesen Doppel- oder sogar Dreifachaspekt des homeschooling hervorragend rübergebracht. Es sieht so aus, als könnte sich die Ungerechtigkeit des Klassensystems ausgleichen lassen durch vermehrten Fleiß, durch verbesserte Leistung aufgrund der weniger belastenden Lernsituation. Aber das ist nur Schein, denn nicht nur die Technik ist eine verschiedene für arm und reich, sondern auch der Lebenskontakt. Eine traurig-wahre Geschichte.

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  3. Wir haben PC und WLAN Ausstattung in den Schulen vernachlässigt, weil bei uns immer noch Präsenz-Unterricht angesagt ist, sprich FRONTALUNTERRICHT.
    Der Meinung, dass die Kinder furchtbar leiden, weil sie nicht genug Kontakte haben, kann ich trotzdem nicht so ganz folgen. Wir waren früher froh, wenn Schule zu Ende war, weil wir dann draußen spielen konnten, wenn die Hausaufgaben erledigt waren. Und viele von uns waren auch sog. „Schlüsselkinder“, die auf sich alleine gestellt waren.
    Aber das wird den heutigen Kindern nicht mehr zugemutet, obwohl es möglich ist. Ich sehe es bei den Kindern von meinem Sohn, bei unseren Nachbarn. Ich denke, man muss auch Vertrauen in seine Kinder haben.Oder liege ich da falsch?

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  4. Pingback: Schreibeinladung für die Textwochen 12.13.21 | Wortspende von puzzleblume | Irgendwas ist immer

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